Theresienstadt – Wulkow
Im System der nationalsozialistischen Ghettos und Konzentrationslager spielte das Ghetto Theresienstadt eine besondere Rolle als Ort der „Täuschung und Propaganda“: Während es von der Reichspropaganda als „Vorzeige“-Ghetto beziehungsweise angebliches „Reichsaltersheim“ ausgegeben wurde (einige prominente oder vermögende Jüdinnen:Juden gaben alles auf, um sich dort einzukaufen), handelte es sich faktisch um ein Durchgangslager in die Orte der Vernichtung „nach Osten“, vor allem nach Auschwitz. Aufgrund dieses Verschleierungscharakters wurde die Stadt von den Häftlingen auch nach einem Gedicht von Leo Straus als „Als ob Stadt“ bezeichnet.
Das Ghetto Theresienstadt (Terezín) wurde im Herbst 1941 von der SS in der gleichnamigen Festungsstadt im böhmischen Bezirk Leitmeritz, nordwestlich von Prag, im von den Deutschen besetzten „Protektorat Böhmen und Mähren“ eingerichtet. Die tschechischen Einwohner:innen mussten zwangsweise in das Landesinnere umsiedeln. Sie waren noch nicht alle evakuiert, als im November die ersten jüdischen Deportierten aus Prag eintrafen, um das Lager aufzubauen. Im Laufe der Zeit wurden aus allen von den Deutschen besetzten Ländern Jüdinnen:Juden nach Theresienstadt deportiert. Im Rahmen der Ausarbeitung der Pläne zur Ermordung aller Jüdinnen:Juden im Januar 1942 auf der sogenannten Wannseekonferenz beschlossen die NS-Funktionäre, aus Theresienstadt ein „Ghetto der Alten“ zu machen. Theresienstadt war damit als Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtung Teil eines Konzeptes, durch das die SS versuchte, das Ausmaß des Massenmordes zu verschleiern.
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Laut einem Erlass des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) vom 21. Mai 1942 sollten folgende Personen aus dem Deutschen Reich nach Theresienstadt deportiert werden: (1) Über 65 Jahre und über 55 Jahre alte gebrechliche Jüdinnen:Juden mit ihren Ehegatten, (2) Träger hoher Kriegsauszeichnungen und des Verwundetenabzeichens aus dem Ersten Weltkrieg sowie deren Frauen, (3) Jüdische Ehegatten aus nicht mehr bestehenden deutsch-jüdischen sogenannten Mischehen und (4) Jüdische alleinstehende Menschen, die als sogenannte Mischlinge verfolgt wurden. Neben dem Ghetto Theresienstadt in der Großen Festung befand sich in der Kleinen Festung das Gestapo-Gefängnis.
Nach ihrer Ankunft im Ghetto wurden Frauen und Männer getrennt, Familien auseinandergerissen, wie der tschechische Überlebende Hanuš Hron eindrücklich beschreibt:
„In Theresienstadt ... war es so, in den ersten Tagen oder ersten Monaten oder vielleicht ein ganzes Jahr, solange noch die ehemalige Bevölkerung in Theresienstadt lebte, (…) waren die Männer und die Frauen getrennt in verschiedenen Kasernen und (…) man konnte sich nicht besuchen … und nur wenn man das Glück hat (…) man ging in eine andere Kaserne zu arbeiten, also hat man vielleicht die Frau oder die Schwester getroffen“.
Hanuš Hron, 2021
Die Häftlinge wohnten in Kasernen, in denen zuvor Soldaten der Wehrmacht untergebracht waren und nur kahle Wände zurückgelassen hatten, und in anderen Gebäuden innerhalb der Großen Festung. Das Ghetto war schnell überfüllt, die Ankommenden bezogen Dachböden, kamen in Hauseingängen, in Kellern, auf Höfen oder in Verschlägen unter, überall in unerträglicher Enge. In den überfüllten Räumen konnten sich die Häftlinge kaum bewegen, sie schliefen auf Strohsäcken in Stockbetten oder auf den blanken Fußböden, es gab keine Privatsphäre.
„Ich erhielt auf dem zugigen Dachboden der Hannover-Kaserne einen Platz mit Matratze aus Papiergewebe, gefüllt mit sehr wenig Stroh, Größe 190 x 80 cm. Die Matratzen lagen auf den Fußböden mit Zwischenräumen von 15 cm, die Transportnummer an der Wand. Der Platz auf dem Dachboden sollte für die nächste Zeit meine Bleibe sein. In meinem Rucksack hatte ich eine Decke, die mir gute Dienste leistete. Man hatte weder Laken noch Kissen, man schlief mit angezogenen Sachen. Der Wind blies durch die offenen Dachsparren, man musste sich warmhalten, denn irgendeine Form von Heizung gab es nicht.“
Walter Grunwald in seinem Bericht „Erlebtes“
Auch die hygienischen Verhältnisse waren aufgrund der Überfüllung des Lagers katastrophal, es bestand ein Mangel an sanitären Einrichtungen, die (Trink-)Wasserversorgung war völlig unzureichend.
„Theresienstadt (hatte) vor dem Krieg inklusive der ganzen Militärbesatzung 12.000 Einwohner (…) und auf einmal sind die Einwohner gestiegen bis zu 55.000, also das schlimmste Problem war Wasser.“
Hanuš Hron, 2021
Infolge dieser zugespitzten Verhältnisse vermehrten sich Erreger sowie Ungeziefer und Ratten, Krankheiten und Epidemien breiteten sich aus. Diese desolate gesundheitliche Situation der Menschen wurde durch die unzureichende Ernährung und schwere körperliche Arbeit verschärft.
„Warmes Essen gab es nur einmal am Tag, zur Mittagszeit, meist eine undefinierbare Suppe, die vor allem aus Wasser bestand“
Walter Grunwald in seinem Bericht „Erlebtes“
Das Fehlen von Medikamenten und medizinischer Ausstattung, welches auch durch die Anstrengungen der jüdischen Ärzt:innen und Pfleger:innen nicht aufgefangen werden konnte, traf insbesondere ältere Menschen.
„Am schlimmsten war es für alte Leute, die keine Arbeit hatten, auch die Nahrungsraten waren für sie kleiner, also diese Leute hungerten eigentlich. (…) Mitte 1942 kamen Transporte von überalterten (?) Leuten aus Deutschland (…), also das waren Zehntausende von alten Leuten, man hat ihnen zwar gesagt, sie gehen in eine Kur, in eine Kurstadt, aber das war selbstverständlich nur eine Lüge. (…) außerdem hatten sie Hunger und Krankheiten, also die Todesrate in Theresienstadt ist gestiegen auf 180 Personen pro Tag.“
Hanuš Hron, 2021
Walter Grunwald litt zudem unter der Bürokratie der Lagerverwaltung, Korruption und Diebstahl, welche durch die Situation im Ghetto ebenso begünstigt wurden wie der „Brotneid“:
„Verließ man seine Matratze, hatte man Sorge, dass man bestohlen wurde. Man musste die wenigen Habseligkeiten gut verstecken, das lernte man ziemlich schnell. Ich konnte mich mit dieser Umgebung nicht abfinden. Ich war nahe daran, aufzugeben.“
Walter Grunwald in seinem Bericht „Erlebtes“
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Alle arbeitsfähigen Häftlinge ab 14 Jahren mussten täglich zehn bis zwölf Stunden arbeiten. Nach ihrer Ankunft sollten sie sich bei der „Arbeitsvermittlung“ melden und bekamen kurze Zeit später vom „Arbeitsamt“ den Einsatzort mitgeteilt. Einige Häftlinge wurden den kommunalen Einrichtungen zugeteilt, unter anderem in der Jugend- und Altenfürsorge, oder den Küchen und Wäschereien, wie Käthe Rosenbaum, die in der Wäscherei als Maschinenmeisterin tätig war, oder dem Wasserwerk, wie der damals sechzehnjährige Hanuš Hron, der dort Pumpen und Rohre reparierte. Derartige Arbeitsplätze ermöglichten die Unterstützung der Familien mit Verpflegung und bewahrten sie vor den Deportationen. Andere Häftlinge mussten die landwirtschaftlichen Flächen um Theresienstadt bewirtschaften oder arbeiteten in der Kriegsproduktion, beispielsweise in der Spaltung von Glimmer oder der Produktion von Uniformen für die Wehrmacht.
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Es gab auch Arbeitskommandos, die zu speziellen Einsätzen außerhalb des Ghettos deportiert wurden. Dazu gehörte auch das Außenarbeitskommando „Barackenbau“, das Theresienstadt Anfang März 1944 Richtung Wulkow verließ. Die Wulkower Häftlinge hatten Glück im Unglück: Durch den Einsatz in Wulkow bis Februar 1945 entgingen sie und zum Teil auch ihre Familien den Deportationen im Herbst 1944, als massenhaft Häftlinge aus Theresienstadt in Auschwitz ermordet wurden.
- © Jüdisches Museum Prag
Das Leben im Ghetto verwaltete der Ältestenrat (auch „Judenrat“ genannt), dessen Mitglieder aus der Prager Jüdischen Kultusgemeinde stammten. Diese hatten gehofft, ein Ghetto unter jüdischer Selbstverwaltung einrichten zu können. Sie erhielten ihre Anweisungen jedoch direkt von der SS-Kommandantur und hafteten für deren Realisierung. Zu ihren Aufgaben gehörte es unter anderem, die Listen für die Deportationen zusammenzustellen, die von der SS durchgeführt wurden. Da sich die Richtlinien für die Deportationen ständig änderten, war niemand davor sicher – auch der Ältestenrat nicht. Die SS-Lagerleitung unterstand ihrerseits der SS-Führung des „Protektorates Böhmen und Mähren“ und dem RSHA.
Trotz beengter Verhältnisse, Unterversorgung, Krankheiten und Arbeitspflicht gab es im Ghetto vielfältige kulturelle und pädagogische Aktivitäten, zu denen Theater- und Musikaufführungen zählten, die den Häftlingen helfen konnten, ihren Lebenswillen zu stärken und den Alltag für kurze Zeit zu vergessen. Als Ende 1943 zunehmend Informationen über die Vernichtungslager an die Weltöffentlichkeit gelangten, erlaubte die deutsche Führung einer Untersuchungskommission des Internationalen Roten Kreuzes, Theresienstadt zu besuchen. Im Vorfeld des Besuchs der Kommission im Sommer 1944 deportierte die SS-Führung 7.500 Häftlinge nach Auschwitz in das sogenannte Familienlager, um das Ghetto zu „leeren“ und weniger überfüllt präsentieren zu können. Zudem benannte sie alle Einrichtungen im Ghetto um, ließ Geschäfte und ein Café eröffnen, eine Theaterbühne, ein Bethaus, eine Schule und eine Bibliothek einrichten sowie blühende Gärten anlegen. Der Besuch der Kommission am 23. Juni 1944 verlief nach einem präzisen Plan, insbesondere die Treffen mit den Häftlingen waren genauestens vorbereitet.
Nach Ende des Besuches gab die SS einen Propagandafilm über das Leben der Jüdinnen:Juden unter dem „Schutz des Dritten Reichs“ in Auftrag: Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1944/45), besser bekannt unter dem Titel: "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt". Noch vor Fertigstellung des Films wurden der Regisseur Kurt Gerron und zahlreiche Mitwirkende, die gehofft hatten, durch ihre Kooperation ihr Leben und das ihrer Familien zu retten, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sie gehörten zu den letzten der 18.500 deportierten Jüdinnen:Juden, die zwischen dem 28. September und dem 28. Oktober 1944 von der SS nach Auschwitz gebracht und größtenteils in den Gaskammern ermordet wurden.
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Kurz vor der Befreiung kamen täglich Güterzüge mit den Häftlingen aus den geräumten Lagern im Osten in Theresienstadt an. Durch die zunehmende Überfüllung wurde die Situation dort immer chaotischer. Anfang Mai 1945 übergab die SS dem Internationalen Roten Kreuz für zwei Wochen die Aufsicht über das Ghetto und das Gestapogefängnis, bevor die Truppen der Roten Armee Theresienstadt am 8. Mai 1945 erreichten.
„Diesen Tag werde ich niemals vergessen, überall wurden Fahnen geschwenkt und Nationalhymnen gesungen. Viele begriffen überhaupt nicht, was geschehen war, aber alle waren glücklich und zufrieden. Ich selbst natürlich auch, ich habe 26 Monate Haft überlebt.“
Walter Grunwald in seinem Bericht „Erlebtes“
Zu dieser Zeit war im Lager eine Flecktyphus-Epidemie ausgebrochen, Theresienstadt wurde unter Quarantäne gestellt, niemand durfte den Ort verlassen. Trotz einer großen Hilfsaktion aus Prag und der Umgebung starben nach der Befreiung zwischen 800 und 1000 der Häftlinge. Viele der Überlebenden litten jahrelang unter den Folgen von Haft, Misshandlung und Entbehrung. In die Freude über die Befreiung mischte sich die Trauer und der Schmerz um die verlorenen Lieben, die Ermordeten und die Toten.
Von 160.000 Menschen, die das Ghetto zwischen 1941 und 1945 durchliefen, starben etwa 35.000 im Lager, nur ein Viertel überlebte. Etwa 88.000 Menschen wurden in die Vernichtungslager deportiert, die meisten wurden dort ermordet.