Alltag im Lager

Der Alltag in Wulkow war neben Arbeit, Appell stehen und Angst vor Strafen geprägt von ständigem Hunger, fehlender medizinischer Versorgung, (Freizeit-)Aktivitäten sowie von Freund- und Feindschaften, Solidarität und Rivalität. Verschiedene Strategien, um mit den Lebensbedingungen zurechtzukommen beziehungsweise die Situation erträglicher zu gestalten, durchziehen alle diese Bereiche: Solidarische Aktionen oder Aktivitäten konnten helfen, die Versorgung zu verbessern, den Alltag zu vergessen und/oder sich gegenseitig zu stützen. Zu den Strategien gehörte auch „unter dem Radar zu laufen“ oder sich etwas zu „organisieren“.

Der Hunger

Die Verpflegung war auf das allernotwendigste Ausmaß reduziert, welches für die Erhaltung des Lebens und damit der Arbeitsfähigkeit unerlässlich war. Haltbare Lebensmittel wurden per Bahn aus Theresienstadt angeliefert, Brot und Kartoffeln kamen aus den umliegenden Ortschaften. Der Lagerkommandant Franz Stuschka ordnete häufig als Strafmaßnahme kollektiven Essensentzug an.

Einige Häftlinge bekamen zwar Lebensmittelpakete von Angehörigen aus Theresienstadt, diese wurden aber so lange zurückgehalten, bis der Inhalt bereits verschimmelt oder durch Stuschka geplündert worden war. Der Hunger war damit allgegenwärtig.

Im Alltag der Häftlinge spielte das „Organisieren“ von Essen eine große Rolle. So wurde beispielsweise ein lange geplanter Einbruch in die Proviantbaracke während der Abwesenheit Stuschkas erfolgreich durchgeführt und brachte den Häftlingen ein wenig zusätzliches Essen zu ihrer ansonsten überschaubaren Ration. Eine weitere Möglichkeit stellte der Tausch innerhalb der Lagerstruktur dar, welcher sich vor allem nach Bezug des Ausweichquartiers durch Mitarbeiter:innen des RSHA ergab.

„In dieser Zeit war ich ein reicher Mann in Wulkow, denn ich hab dort regelmäßig die Toiletten kontrolliert, ob da alles in Ordnung ist, und auf den Toiletten habe ich immer die Reste von den Zigaretten gefunden, und die hab ich wieder weiter dem Koch verkauft, und hier und da bekam ich ein Stückchen Brot.“

Hanuš Hron, 2021

„Kaffee“tragende im Häftlingslager, gezeichnet von Herbert Kolb
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Fehlende medizinische Versorgung

Nicht nur der Hunger, auch die hygienischen und medizinischen Bedingungen im Lager waren äußerst unzureichend und damit lebensbedrohlich. Der Lagerarzt, ein älterer Häftling, hatte in einem kleinen Schuppen einen Behandlungsraum und eine Quarantänestation eingerichtet – aber diese war meist unbesetzt, da laut Stuschka das Lager ausschließlich zur Arbeit bestimmt war. Den Häftlingen graute es vor dieser sogenannten „Krankenstube“. Selbst bei frostigen Temperaturen musste die Eingangstüre auf Anweisung von Lagerkommandant Franz Stuschka ständig geöffnet bleiben. Darüber hinaus wurde die Versorgung auf ein Minimum reduziert. Die Kranken überlebten oftmals nur durch die Unterstützung der Mithäftlinge. Diese Bedingungen zwangen viele Häftlinge zu arbeiten, selbst wenn sie krank und fiebernd waren.

„Der Zeuge Löwy, der sich die Hand gefroren hatte, hat mich mit aufgehobenen Händen gebeten, ihn bei mir arbeiten zu lassen, weil er da mehr geschützt war als im Krankenrevier und weil man ja gewusst hat, dass das alles Todeskandidaten waren, die im Krankenrevier waren.“

Otto Katz, 1947

Der Lagerarzt Erich Knöpfelmacher versorgt einen Häftling, gezeichnet von Herbert Kolb 1944
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„Freizeit“ und Unterhaltung als Ablenkung vom Alltag

Neben den miserablen Zuständen beschrieben ehemalige Häftlinge immer wieder, dass es zu freizeitähnlichen Situationen kam. So ergaben sich in den Baracken beispielsweise abends Momente, in denen die Häftlinge etwas Zeit für sich finden konnten. Es gab romantische Beziehungen im Lager. Auch kleine humoreske Einlagen waren Ablenkungen im Alltag und halfen den Häftlingen, sich aufzumuntern und die schweren Lebensbedingungen im Lager besser zu ertragen.

„Da waren zwei Typen. Einer war Heinz Frankenstein. Er nennt sich Henry Frank jetzt und lebt in New Jersey. Und diese beiden Berliner Jungs haben Pantomimen gemacht, witzige Pantomimen. Und wenn wir draußen standen nach dem Abendessen, dem sogenannten Abendessen, im Hof, haben sie diese vorgeführt. Und wir standen um sie herum und lachten. Es war wunderbar, für diese wenigen Momente, wissen Sie?“

Ingeborg Kantor, 1997

Als ein besonderes Ereignis wurde immer wieder das Weihnachtsfest 1944 beschrieben. An diesem Tag war eine kleine Feier geplant, die zum Erstaunen aller von Stuschka genehmigt wurde. So bauten die Häftlinge in einem kleinen Raum neben der Küche eine provisorische Bühne auf. Der Häftling Heinz Frankenstein saß auf der kleinen Bühne, erzählte Witze und sang Lieder. Als Stuschka und ein weiterer SS-Mann irgendwann in der Tür erschienen, erstarrten alle, die beiden setzten sich jedoch und befahlen Frankenstein, weiter zu machen. Stuschka schien sich zu amüsieren. Irgendwann ließ er sogar die Pakete der Angehörigen aus Theresienstadt holen und verteilte sie. Doch es gab noch ein übles Nachspiel, da Stuschka während der Feier die Baracken der Häftlinge durchsuchen ließ und dabei eine Zimmermannsaxt gefunden wurde, welche normalerweise nach der Arbeit im Werkzeuglager abzugeben war. Stuschka wähnte nun einen Anschlag auf sich und ordnete einen Strafappell an. Bei großer Kälte mussten die Häftlinge mehrere Stunden vor der Wohnbaracke stehen. „Dieser Nachmittag war die erste und letzte Freizeit, die wir in Wulkow erlebt haben.“ (Walter Grunwald, 1990er Jahre)

Häftlinge abends in der Baracke, gezeichnet von Herbert Kolb
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Sechs Freunde, gezeichnet von Eli Lichtblau-Leskly
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Freundschaften, Solidarität, Rivalitäten und Feindschaften

Neben Freundschaften und Solidarität gab es im Lager auch Rivalitäten und Feindschaften. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei die Manipulation durch den Lagerkommandanten Franz Stuschka, der es gut verstand, die Häftlinge gegeneinander auszuspielen, so dass es zu Auseinandersetzungen zwischen tschechischen und deutschen Häftlingen kam. Allerdings gelang ihm das keineswegs umfassend: Freundschaften, Zusammenhalt und Solidarität im Lager spielen in vielen Zeugnissen eine wichtige Rolle. Freundschaften halfen den ehemaligen Häftlingen nicht nur emotional über die schwere Zeit hinweg, sie halfen auch, den Lebensmut zu erhalten und den Blick auf die Zukunft zu richten.

„Erwin Pick war einer der Zimmermänner. Er war schon 29 Jahre alt, ein kleiner Kerl, den wir ‚Picheck‘ nannten. Er war einer meiner besonderen Freunde. Manchmal brachte er mir abends ein wenig Hebräisch bei, denn er dachte, dass wir nach dem Krieg alle nach Palästina gehen würden.“
 

Herbert Kolb, 2008

 

Videointerview Zeitzeugengespräch Hanuš Hron in der Feldsteinscheune Trebnitz 2021
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