Ervin Kosiner (1900 – 1972)

Der Bauingenieur von Wulkow

Ervin Kosiner, ohne Jahr
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Ervin Kosiner war in Wulkow leitender Ingenieur beim Barackenbau.

Am 16. Juni 1900 in Bukol, 30 Kilometer nördlich von Prag, geboren, wuchs Ervin Kosiner als eines von acht Kindern in einer jüdischen Familie ohne religiöse Erziehung auf. Die Familie feierte stattdessen, wie bereits viele jüdische Familien in Böhmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die christlichen Feiertage Ostern und Weihnachten.

In einem Interview erinnerte sich seine Tochter Milena Procházková 2005 an ihn als einen „großen Spaßvogel“ mit einer „Vorliebe für Humor“: Im Ersten Weltkrieg wurde er siebzehnjährig zur Artillerie eingezogen, erzählte seiner Tochter später aber nicht viel mehr, als „dass er dauernd Schmerzen im Hintern hatte“, weil die Artilleristen die Geschütze mit Pferden zogen und er daher ständig im Sattel gesessen hätte.

Nach dem Ersten Weltkrieg, nunmehr in der 1918 gegründeten Tschechoslowakei, studierte Ervin Bauingenieurwesen an der Tschechischen Technischen Universität Prag und arbeitete später als Bauingenieur. 1928 heiratete er in Prag die neun Jahre jüngere Hedvika Sternová, 1930 wurde ihre Tochter Milena geboren. Die junge Familie führte ein glückliches Leben im Prag der Zwischenkriegszeit: Kosiner war ein gefragter Bauingenieur in der wirtschaftlich boomenden Tschechoslowakei. Er verdiente gut, und im Sommer ging es mit den Familien der Geschwister in den gemeinsamen Urlaub nach Jugoslawien.

Das alles änderte sich mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei und dem Einmarsch der Wehrmacht im Frühjahr 1939. Die Kosiners mussten ihre Wohnung im beliebten Prager Stadtteil Letna räumen und in einen anderen Bezirk umziehen. Eine Flucht ins Ausland, wie sie einige Geschwister in den 1930er Jahren unternommen hatten, war Ervin Kosiner nun nicht mehr möglich. Lebensmittelkarten gab es für die Kosiners als „Juden“ – im deutsch besetzten Prag Bürger:innen dritter Klasse – ausschließlich für Brot, Mehl und Kartoffeln. Nur dank der Unterstützung durch Freund:innen kamen sie ohne Hunger durch die Kriegsjahre in Prag. Im September 1943 wurden Ervin, Hedvika und Milena Kosiner ins Ghetto Theresienstadt deportiert.

Alle drei mussten in Theresienstadt arbeiten: Hedvika in der „Putzkolonne“ und später in der Bäckerei, Milena in einer Fabrik. Ervin war auch in Theresienstadt als Bauingenieur gefragt und meldete sich nach einigen Monaten zum Arbeitseinsatz im „Barackenbau Zossen“. Mit einem der ersten Transporte kam er Anfang März 1944 in den Wald bei Wulkow. Als erfahrenem Bauingenieur wurde ihm dort die Bauleitung übertragen.

Kosiner hatte die Verantwortung für den Bau der Barackensiedlung, auch gegenüber dem SS-Kommandanten Franz Stuschka. Ihm standen untergeordnete Ingenieure zur Seite. Die Baustelle wurde beständig erweitert und damit wuchs auch seine Verantwortung. Stuschka machte Kosiner für alle Mängel persönlich verantwortlich und griff ihn auch tätlich an. Unter diesem Druck verlangte Kosiner strenge Disziplin bei den Arbeitsleistungen.

Einige der Postkarten, die Ervin Kosiner an seine Frau Hedvika und seine nunmehr vierzehnjährige Tochter Milena aus Wulkow schickte, sind erhalten. Darin ist fast nichts über den Lageralltag in Wulkow zu erfahren, weil die Post der Zensur unterlag. Hingegen zeigt die Korrespondenz, wie wichtig es war, sich gegenseitig des eigenen Wohlbefindens zu versichern, um dem anderen die Sorgen zu nehmen. Schon wenige Tage nach der Ankunft schrieb Ervin: „Es geht mir sehr gut, wir wohnen im Walde in Baracken, es ist warm, das Essen ist vorzüglich. […] Keine Sorgen um mich.“ Und einen Monat später: „Liebste Hedo und Milenko! […] Ich bin glücklich, dass es euch gut geht. Mir auch, aber riesig viel zu tun. […] Sei ohne Sorge, ich bin gesund und sehe gut aus.“

Erst nach fast einem Jahr und einem achttägigen Rücktransport im Zug nach Theresienstadt traf Ervin Kosiner seine Familie kurz wieder. Ein weiterer Einsatz folgte: Ende März 1945 schickte Ervin mit dem Absender „Bauleiter Außenarbeitsgruppe“ eine Postkarte mit „1000 Küssen und Handküssen“ an seine Frau im Ghetto.

Nach Kriegsende gingen die Kosiners nach Prag zurück und bekamen nach einigem Warten auch ihre Wohnung in Letna zurück. Von den vielen jüdischen Familien, die vor dem Krieg in dem Haus gewohnt hatten, kehrte außer ihnen keine zurück. Auch ihr einstiger Hausrat war gänzlich verloren gegangen. Eine Entschädigung gab es nicht, im Gegenteil: Die in der Wohnung von den deutschen Bewohner:innen zurückgelassenen Möbel gehörten nun dem Staat und mussten erworben werden. Die Kosiners waren mit dem Leben davongekommen, sonst hatten sie nichts. Mit 45 Jahren fing Ervin Kosiner von vorne an. Er baute das Planungsbüro, das er vor dem Krieg betrieben hatte, wieder auf.

Die Erfahrungen in Wulkow verfolgten Ervin Kosiner auch nach 1945. Viele der tschechischen Wulkower:innen kamen nach dem Krieg nach Prag und hielten über Jahrzehnte den Kontakt zueinander. Die erste größere Zusammenkunft berief Kosiner selbst 1947 im Prager Restaurant „U Sojku" ein. Anlass war seine Forderung nach einer Aussprache, nachdem ein von körperlicher Züchtigung betroffener Häftling Kosiner beschuldigt hatte, seine Funktion im Lager missbraucht zu haben.

Im selben Jahr bekam Ervin Kosiner einen Brief von Franz Stuschka, dem einstigen Lagerkommandanten von Wulkow, der sich zu dieser Zeit in amerikanischer Haft in Salzburg befand. In dem Brief bat Stuschka den „Sehr geehrte[n] Herr[n] Ingenieur […] von kompetenter Stelle um ein Führungszeugnis über meine Tätigkeit in Wulkow“, um eine Haftentlassung zu erwirken. Stuschka führte darin eine Reihe von angeblichen Mildtätigkeiten zugunsten der Häftlinge aus, die er teils auch „entgegen erhaltener Anordnungen“ ermöglicht habe: „Post und Paketverkehr, zusätzliche Beschaffung von Medikamenten, Verpflegungsprämien, Zahnbehandlung [sic!], den schwierigen Rücktransport mit der Bahn entgegen Befehl zum Fußmarsch u. dgl.“

Auch auf die Gewalt im Lager kam er darin zu sprechen. Stuschka, der in allen Häftlingsberichten als bestialischer Tyrann erinnerte Gewalttäter, inszenierte sich im Brief an Kosiner als ein um Gerechtigkeit bemühter Verantwortlicher für die Disziplin im Lager. Dabei machte er zwei Argumente stark: „grundlose disziplinäre Maßnahmen“ habe es nicht gegeben und er sei eingeschritten, wenn Häftlinge durch Wachen geschlagen wurden. Eine perfide Formulierung für Stuschkas Lagerpolitik, die die Deutungshoheit über strafbare Vergehen und das unbeschränkte Gewaltmonopol auf die brutalen, sadistischen und die Häftlinge entwürdigenden Gewaltexzesse nur ihm, dem Lagerkommandanten, zugestand. Ob Kosiner den Brief beantwortete, ist nicht bekannt.

Das Planungsbüro betrieb Ervin Kosiner nur bis Anfang der 1950er Jahre, denn in der nunmehr kommunistisch regierten ČSR war auf Dauer kein Platz für freischaffende Bauplaner:innen vorgesehen. Kosiner heuerte als Chefingenieur beim staatlichen CHEMOPROJEKT an, für das er mehrere Großbauprojekte umsetzte. In dieser Funktion arbeitete er bis zu seinem Tod im Jahr 1972.

Ervin Kosiner starb an einem Herzinfarkt. Es war bereits sein vierter, die ersten beiden hatte er in Wulkow erlitten.

Zum Weiterlesen:

Interview mit Ervin Kosiners Tochter Milena Procházková aus dem Jahr 2005 sowie weitere Fotos (Sprachen: Englisch, Tschechisch)