Ingeborg Kantor (1924-2016)

Die hilfsbereite Optimistin

Kennkarte von Ingeborg Nattmann, 1939
  • © USC Shoah Foundation

Ingeborg Kantor wurde am 29. Mai 1924 in Berlin unter dem Namen Ingeborg Nattmann geboren. Ihr Vater war Arthur Nattmann, ein nicht-jüdischer Deutscher, der 1929 nach der Scheidung in die USA emigrierte. Ingeborgs Mutter, Erna Nattmann geb. Israel, war Jüdin. Ingeborg lebte zusammen mit ihrer Mutter und ihren Großeltern mütterlicherseits in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg. Ingeborg sagte 1997 in einem Videointerview mit der USC Shoah Foundation, dass die Familie sehr arm und nicht sehr streng religiös war. Mit ihrem Großvater ging sie jedoch regelmäßig an Freitagabenden in die Synagoge „Friedenstempel“ in Berlin. Auch jüdische Feiertage wurden in der Familie zelebriert.

Ab dem Alter von fünf Jahren besuchte Ingeborg die Schule und durfte wegen ihrer guten Leistungen später sogar an eine Schule wechseln, in der sie besonders gefördert wurde und zusätzliche Unterrichtsfächer hatte. Kurz nach den Novemberpogromen 1938 war es Jüdinnen:Juden nicht mehr erlaubt, staatliche Schulen zu besuchen. Somit musste auch Ingeborg ihren Bildungsweg abbrechen.

Gemeinsam mit ihrer Mutter hätte sie die Möglichkeit gehabt, Deutschland zu verlassen und nach England zu emigrieren. Wegen der Großeltern und der Krebserkrankung ihres Großvaters entschieden sie sich aber dagegen und blieben in Berlin. Ingeborgs Großeltern wurden im Oktober 1942 zunächst in das Sammellager Große Hamburger Straße und danach in das Ghetto Theresienstadt deportiert.

Weil Ingeborg nun nicht mehr die Schule besuchen konnte und sie auf Essenmarken angewiesen war, fing sie an zu arbeiten -  ein Jahr lang in einem jüdischen Café als Kellnerin und bis Kriegsbeginn als Aushilfe in einem Büro. Vom Arbeitsamt wurde sie dann zu Siemens ans Fließband geschickt. Mit der „Fabrikaktion“ am 27. Februar 1943 endete auch Ingeborgs Arbeit bei Siemens. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen wurde sie in das Sammellager in der Berliner Rosenstraße gebracht. Dort traf sie ihren Onkel und musste bis zum „Rosenstraßen-Protest“, an dem sich auch ihre Tante beteiligte, dortbleiben.

Ingeborgs Mutter hatte von ihrem Chef am Tag der „Fabrikaktion“ den Rat bekommen, die Firma früher zu verlassen und nach Hause zu gehen. Die beiden trafen sich in der gemeinsamen Wohnung wieder.

Um sich weiterhin versorgen zu können, musste Ingeborg wieder eine Arbeit finden. Das Arbeitsamt vermittelte sie zum Stettiner Bahnhof, wo sie Züge reinigen musste.

Als sie eines Tages von dieser Arbeit nach Hause kam, war die Gestapo bereits in ihrer Wohnung. Ingeborg und ihre Mutter wurden daraufhin nach Theresienstadt deportiert.

Sie sagte, dass sie sich anfangs gefreut habe, ihre Großeltern wiederzusehen und keine Angst mehr vor den Bomben haben zu müssen. Allerdings wusste sie nicht, was sie dort erwarten würde. So erfuhr sie einige Tage nach ihrer Ankunft, dass ihre Großeltern bereits kurz nach der Deportation in Theresienstadt verstorben waren.

In Theresienstadt arbeitete Ingeborg im Büro der sogenannten „Entlausung“. In der wenigen Freizeit, die sie dort hatte, war sie an der Aufführung der Operette „Die Fledermaus“ beteiligt.

Von ihrer Tante bekam Ingeborg Pakete mit – unter anderem – Kartoffeln, Brot oder Lippenstiften zugeschickt.

„Wir durften Postkarten schreiben, aber wir konnten ihr nicht schreiben, was wir wirklich wollten oder was wir brauchten. Also schrieb ich eine Postkarte, ihr Name ist Israel, Frau Charlotta Israel, geborene – und ich schrieb den Namen von unserer Bäckerei dort hin. Sie verstand es. Sie sendete uns Brot. Sie war sehr schlau. Und so machte ich weiter. Ich schrieb ihr eine Karte, geborene Ellermann. Das war der Gemüsehändler um die Ecke. Also schickte sie uns Kartoffeln. Und dann wurde ich noch schlauer und sendete ihr eine Karte: Frau Charlotta Israel geborene Scherk. Scherk war eine Kosmetik Firma. […] Sie schickte Lippenstifte. Sie konnte die Lippenstifte sehr einfach besorgen. Und ich bekam ein großes Brot dafür. Ich konnte handeln.“

Ingeborg kam in Theresienstadt ins Gefängnis. Der Grund dafür war, dass sie eine Essenmarke auf dem Boden fand und diese einlöste. Da die Marken mit Nummern versehen waren und Ingeborg diese nicht änderte, fiel es bei der Essenausgabe auf. Viele der Menschen, die zu dieser Zeit im Gefängnis in Theresienstadt waren, wurden daraufhin nach Wulkow deportiert. Sie meldeten sich also nicht freiwillig, wie andere Häftlinge es taten, sondern wurden zur Strafe nach Wulkow geschickt. Ingeborgs Chef in der „Entlausung“ versprach ihr, sie aus diesem Transport herauszubekommen. Da Wulkow sich jedoch in der Nähe von Berlin befindet, wollte sie das nicht.

Nachdem sie sich im August 1944 von ihrer Mutter verabschiedet hatte, wurde sie gemeinsam mit 20 weiteren Frauen, darunter ihre Freundin Traute Schumann, nach Wulkow deportiert.

In Wulkow musste sie verschiedene Arbeiten erledigen. Diese waren größtenteils sinnlos und dienten mehr der reinen Beschäftigung. Zum Beispiel sollte sie Kiefernnadeln, die auf dem Boden lagen, in großen Säcken sammeln. Irgendwann arbeitete sie am Teer-Ofen und war froh, dass sie wenigstens während der Arbeit nicht frieren musste. Mit ihrer Freundin Traute Schumann teilte sie in Wulkow Essen und Kleidung.

In der Nacht zum 3. Februar 1945 mussten alle Gefangenen des Außenlagers Wulkow zum Bahnhof in Trebnitz laufen, von wo aus sie auf einer acht Tage langen Fahrt wieder nach Theresienstadt deportiert wurden. Zurück in Theresienstadt, musste Ingeborg in Quarantäne und konnte danach endlich ihre Mutter wiedersehen. So lange Ingeborg in Wulkow war, blieb ihre Mutter in Theresienstadt und wurde nicht deportiert.

Ingeborg fing an, in der Küche zu arbeiten, und teilte das Essen aus. Sie erfuhr dadurch, dass die Rote Armee in Theresienstadt war. Zum Helfen blieb sie noch bis zum Juli 1945, also bis zwei Monate nach der Befreiung, in Theresienstadt.

Sie und ihre Mutter gingen schließlich zurück nach Berlin und wohnten eine Weile bei Ingeborgs Tante und Onkel. Später konnten sie in ihre alte Wohnung nach Charlottenburg zurückziehen. Dort wollten sie aber nicht bleiben und emigrierten in die USA, wo sie am 14. März 1947 mit dem Schiff in Brooklyn ankamen. Nachdem sie zuerst in einem Hotel am Broadway untergekommen waren, konnten die beiden später eine eigene Wohnung in der Westend Avenue beziehen.

Als Ingeborg eines Tages den Broadway entlanglief, traf sie Alfred Kantor, ihren späteren Ehemann. Alfred Kantor hatte das Vernichtungslager Auschwitz und den Todesmarsch von Schnarchenreuth nach Theresienstadt überlebt. Ingeborg und Alfred sahen sich schon auf dem Schiff nach Amerika, lernten sich dort aber nicht kennen. Alfred arbeitete als freischaffender Künstler. Die beiden heirateten am 28. Juli 1950.

Der gemeinsame Sohn Jerry wurde am 4. März 1948 geboren, die Tochter Monica am 29. März 1955. Die Familie lebte weiterhin in New York, bis sie ein Haus in Fresh Meadows gekauft hatten, in dem sie fortan bis 1980 lebten.

Als Monica einen Job als Musiklehrerin in Maine angenommen hatte, zogen Ingeborg und Alfred Kantor dorthin.

Ingeborg starb 2016 im Alter von 91 Jahren in Boston.

Ausschnitt eines Videointerviews mit Ingeborg Kantor vom 23. Juli 1997 (Interview-Code: 31640. Visual History Archive). Für deutsche Untertitel im Video auf CC klicken
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